Anmerkung zum so genannten Kindeswillen *

 
 

Von Prof.Dr.rer.nat.Wolfgang Klenner, Oerlinghausen

 
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Als ich § 50 b FGG zum ersten Male gelesen hatte, fragte ich mich, welcher Teufel wohl den Gesetzgeber geritten haben mag, als er formulierte : „...oder der Wille des Kindes (im Sorgerechtsverfahren) für die Entscheidung von Bedeutung sind...", wo doch die Philosophen seit der Antike darüber nachdenken, was menschlicher Wille und Willensfreiheit bedeuten, ohne bisher zu einem schlüssigen Ergebnis gekommen zu sein.

Angesichts der weitreichenden Folgen sollte zweierlei nicht vergessen werden. Erstens, ein unbeeinflusster und dadurch freier Wille kann beim Menschen erst dann angenommen - und nicht einmal bewiesen - werden, wenn er reif genug ist, die aus seiner Willenserklärung hervorgehenden Entscheidungen in ihren Konsequenzen zu überblicken und für diese Konsequenzen auch einzustehen. Dabei geht es ja nicht um die Frage, ob das Kind Wurst oder Käse auf seinem Brot haben will, sondern um die Bewahrung des Kindes vor einer das ganze künftige Leben begleitenden und möglicherweise nicht mehr rückgängig zu machenden voreiligen Entscheidung über seine familiären Beziehungen. Zweitens, darum haben die für die Kinder bis zu ihrer Volljährigkeit verantwortlichen Erwachsenen für Lebensbedingungen zu sorgen, in denen Kindern keine Willensentscheidungen zugemutet werden, mit denen sie mangels Lebenserfahrung überfordert sein würden. Wo dies dennoch unter Berufung auf eine aus ideologischer Sichtweise resultierenden Idee der Selbstbestimmung des Kindes geschieht, entziehen sich die für das Kind verantwortlichen Erwachsenen ihrer erzieherischen Verantwortung.

Bis zur Eherechtsreform von 1977 war vom Kindeswillen keine Rede. Das bis dahin geltende Schuldprinzip regelte die Frage nach dem Verbleib des Kindes auf die einfache Weise : Der schuldig geschiedene Elternteil schied als Inhaber der „elterlichen Gewalt" (so hieß das damals noch) von vornherein aus. Mit der Eherechtsreform wurde anstelle des Schuldprinzips das Zerrüttungsprinzip eingeführt. Weil keine Schuldfeststellung mehr stattfindet, musste der Verbleib des Kindes im Verfahren geklärt werden, wobei die „elterliche Sorge" (so heißt das bis heute) einem von beiden Elternteilen zu übertragen war (§ 1671 BGB). Die Frage, welcher Elternteil das sein soll, beschäftigt seither, man möchte sagen, Legionen gerichtlich bestellter Sachverständiger. Weil sich beide Eltern meist nicht soweit voneinander unterscheiden, dass einer empfohlen und vor dem anderen gewarnt werden könnte, kam der § 50 b FGG (Freiwillige Gerichtsbarkeit) gelegen, denn darin ist der Wille des Kindes als berücksichtigenswert genannt. Seither wurden Kinder von berufenen und weniger berufenen Experten oft insistierend aufgefordert, doch nun endlich zu sagen, zu welchem Elternteil sie denn gehen wollen. Weil Kinder unter dem Druck des Erwachsenen eine Antwort geben, oft eine, von der sie meinen, dass der Fragesteller sie hören wolle, nur um die lästige Fragerei loszuwerden, erwies sich die Einführung des Kindeswillen in die gerichtliche Entscheidung im großen und ganzen als Fiktion. Denn, im tiefsten Grunde ihres Herzens wünschen diese Kinder, beide Eltern möchten ihnen wieder zusammen und für immer zur Verfügung stehen. Aber der Kindeswille passte so gut ins System. Und, die meisten Sachverständigen arrangierten sich damit, auch wenn sie die Einsicht hatten, die erst mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz von 1998 zur Geltung kam.

Im Kindschaftsrechtsreformgesetz hat der Gesetzgeber einen bedeutsamen Schritt getan, indem er nämlich das Kind, das bisher ein bloßes Rechtsobjekt, also Verfügungsmasse wie Hausrat und Zugewinn, war, zum Rechtssubjekt machte, indem er ihm ein eigenes Recht verlieh. Nämlich im neuen § 1684 BGB, wonach das Kind ein Recht auf Umgang mit jedem Elternteil hat, während jeder Elternteil zum Umgang verpflichtet und berechtigt worden ist. Dabei wird den Eltern die gemeinsame ungeteilte elterliche Sorge belassen. Das führt indessen nicht zur Bedeutungslosigkeit des Kindeswillens, lässt aber Zeit, die Willenserklärung des Kindes erst dann in einem Rechtsverfahren als beweiserheblich zu bewerten, wenn es seinen Willen unabhängig und frei erklären sowie die Folgen der mit seiner Willenserklärung beabsichtigten Entscheidung überblicken kann.

* FamRZ, 17/2003, S. 1315 (Klenner)